Führungskräfte können gezielt toxische Paradoxien erzeugen, um Mitarbeitende auszubeuten und die Lorbeeren einzuheimsen. Der Beitrag zeigt Merkmale und Formen der sogenannten paratoxischen Führung auf und diskutiert Möglichkeiten der Bekämpfung.
Merkmale paratoxischer Führung
Führung ist bereits im Kern eine paradoxe Aufgabe: Führungskräfte müssen gleichzeitig und dauerhaft Nähe zeigen und Distanz wahren, Vertrauen entgegenbringen und Leistung kontrollieren, die Gruppe führen und das Individuum fördern, Zeit geben und Fristen einhalten... diese paradoxen Anforderungen produktiv zu bewältigen zeichnet gute Führungskräfte aus.
Daneben können Führungskräfte gezielt toxische Paradoxien erzeugen, um Mitarbeitende ruhig zu stellen und auszubeuten (vgl. zum Folgenden Julmi 2022). Die sogenannte paratoxische Führung (paratoxisch = paradox + toxisch) bezeichnet eine spezifische Rhetorik, Mitarbeitende in eine paradoxe Situation zu bringen, in der jede mögliche Handlung mindestens einer Anweisung widerspricht. Das heißt: Man hat keine Möglichkeit, das Richtige zu tun, kann aber stets für das Falsche verantwortlich gemacht werden.
Paratoxische Führung beruht auf sechs Merkmalen:
eine intensive Beziehung der beteiligten Personen, von denen eine das „Opfer“ ist,
eine regelmäßige Konfrontation des Opfers mit paradoxen Handlungsaufforderungen,
eine primäre Handlungsaufforderung, deren Missachtung sanktioniert wird,
eine sekundäre Handlungsaufforderung, die der primären Handlungsaufforderung widerspricht und deren Missachtung ebenfalls sanktioniert wird,
ein Verbot, die Paradoxie auf einer Metaebene zu thematisieren sowie
eine wahrgenommene Unmöglichkeit, die Situation zu verlassen (z. B. weil die Karriere sonst in Gefahr scheint).
In paratoxischen Situationen stehen sich also zwei paradoxe Handlungsaufforderungen unvereinbar gegenüber und lähmen so den Handlungsspielraum. Da die Kommunikation auf einer Metaebene ebenfalls keine Option darstellt, existiert kein richtiges Handeln. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Betroffene ein starkes Gefühl der Resignation gegenüber der Veränderbarkeit der Situation empfinden und sich Muster erlernter Hilflosigkeit ausbilden können.
Formen paratoxischer Führung
Paratoxische Führung zu erkennen setzt voraus, ihre Erscheinungsformen unterscheiden zu können. Mit den „vier U“ – die für Unverfügbarkeit, Unvereinbarkeit, Uneindeutigkeit und Unrealisierbarkeit stehen – lassen sich mindestens vier Formen unterscheiden.
Die Unverfügbarkeit bezieht sich auf die Aufforderung zu einem Verhalten, das naturgemäß nur spontan oder selbstbestimmt auftreten kann, also prototypisch „Seien Sie spontan!“. Während die Befolgung, spontan zu sein, nicht spontan ist, ist die Widersetzung der Befolgung, also nicht spontan zu sein, spontan. Aussagen toxischer Männlichkeit wie „Wahre Männer weinen nicht!“ können beispielsweise genutzt werden, um Beschwerden zu unterdrücken und (männliche) Mitarbeitende in die Selbstausbeutung zu treiben. Ob jemand weint, kann nicht angeordnet werden, während jede Träne signalisiert, man sei kein wahrer Mann.
Bei der Unvereinbarkeit stehen sich zwei Handlungsaufforderungen gegenüber. Die primäre Handlungsaufforderung wird in der Regel direkt artikuliert, während die sekundäre Handlungssaufforderung eher indirekt gilt. Eine Führungskraft, die einerseits sagt, es gäbe keine dummen Fragen, andererseits nach jeder zweiten Frage ungläubig den Kopf schüttelt über so viel Inkompetenz, schafft eine paratoxische Führungssituation, die dazu führt, dass die Mitarbeitenden aus Angst keine Fragen mehr stellen, aber bei jedem Fehler vorgehalten bekommen, nicht gefragt zu haben. Auf diese Weise immunisieren sich Führungskräfte, Verantwortung für das Verhalten der Mitarbeitenden zu tragen.
Paratoxische Situationen der Uneindeutigkeit sind dadurch charakterisiert, dass die Handlungsaufforderung so allgemein gehalten ist, dass sich widersprechende Interpretationen ableiten lassen. D. h., aufgrund der Vagheit der Aufforderung kann die Führungskraft nicht auf sie festgenagelt werden. Derartige Praktiken finden sich beispielsweise bei sexuellen Belästigungen, wenn die Führungskraft mehrdeutige Botschaften sendet, die sowohl sexualisiert als auch nicht-sexualisiert verstanden werden können. Thematisieren Betroffene die sexualisierte Interpretation, können Führungskräfte dies entrüstet verneinen. Ähnliche Reaktionen sind auch typisch für die Rhetorik des Gaslighting, z. B. „Das bilden Sie sich nur ein!“, „Seien Sie nicht so empfindlich!“, „Sie sind einfach nur prüde!“ oder „Sie sind ja pervers!“.
Die Unrealisierbarkeit bezeichnet Konstellationen, in denen Mitarbeitende auf etwas verpflichtet werden, das nicht leistbar ist. Diese Form tritt insbesondere auf, wenn sachliche, zeitliche oder soziale Totalisierungen vorgenommen werden (z. B. Null-Fehler-Politik) oder wenn Aufgaben innerhalb der gegebenen Randbedingungen nicht realisierbar sind. So kann etwa die Führungskraft eine Aufgabe zuweisen, die Überstunden erfordert, während die Organisation gleichzeitig Überstunden sanktioniert. Ein weiteres Beispiel ist die Aufforderung, die Zufriedenheit der Kunden zu maximieren. Diese Aufforderung klingt zwar ehrbar, steht aber im Widerspruch dazu, dass eine größtmögliche Zufriedenheit schwer oder gar nicht zu erreichen ist. Mitarbeitende können in jedem Fall dafür verantwortlich gemacht werden, sich nicht wie gefordert um die Kunden gekümmert zu haben.
Identifikation und Bewältigung paratoxischer Führung
Mittels paratoxischer Führung können Führungskräfte ihre Mitarbeitenden effektiv unterdrücken und die Verantwortung im Misserfolgsfall auf sie abschieben. Solche Praktiken gefährden die Gesundheit der Geführten und erzeugen eine Atmosphäre der Angst und der Hilflosigkeit, die eine fatale Abwärtsspirale in Gang setzen kann. In vielen Fällen sind sich Betroffene nicht einmal bewusst, Opfer paratoxischer Führung zu sein. Sie suchen die Fehler vielmehr bei sich selbst. Zunächst ist es daher wichtig, die Merkmale und Formen paratoxischer Führung zu kennen.
Aufgrund der Komplexität paratoxischer Rhetorik ist davon auszugehen, dass Führungskräfte diese nicht aus Versehen, sondern mit Absicht einsetzen (was nicht heißt, dass sie sich dessen bewusst sind). Die Paradoxie auf einer Metaebene zu thematisieren ist daher keine Option. Jeder Versuch würde als Ungehorsam oder Inkompetenz ausgelegt. Entstehen toxische Paradoxien stattdessen durch Inkompetenz, können Betroffene versuchen, ihre Vorgesetzten auf die Paradoxie aufmerksam zu machen.
Primär ist bei paratoxischer Führung allerdings die Organisation in der Pflicht, ihren Mitarbeitenden die Möglichkeit zu verschaffen, angstfrei an ihren Vorgesetzten vorbei kommunizieren zu können, z. B. durch die Einrichtung von Beschwerdestellen. Allerdings ist damit zu rechnen, dass paratoxische Führungskräfte bei einer Konfrontation mit ihrem Verhalten wahrscheinlich weitere Strategien zur Selbstimmunisierung anwenden, die dazu führen, dass sie ihr Fehlverhalten leugnen und die Schuld (wieder) auf die Mitarbeitenden abwälzen. Letzten Endes bleibt der Umgang mit paratoxischer Führung schwierig. Betroffene sollten daher ernsthaft die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, die Organisation oder zumindest die Abteilung zu verlassen.
Literatur
Julmi, Christian: Toxische Paradoxien. Vergiftete Führung in der Wissenschaft, in: Forschung & Lehre 29 (8/2022), S. 628-629
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